Dem nächsten Angriff Rainalds wich sein Gegner mit akrobatischem Geschick aus, sich seitlich abrollend. Blitzschnell war er wieder auf den Füßen und rammte Rainald den Kryss in die rechte Schulter, um sich anschließend zur Flucht zu wenden. Der Straßenkämpfer sackte voller Schmerzen auf die Knie, den Kryss des Angreifers noch in der Schulter. Mit verschwommenem Blick schleuderte er sein Stilett hinter dem Flüchtling her, eigentlich eine aussichtslose Aktion, doch seine einzige Möglichkeit, den Kampf noch zu wenden. Die kleine Waffe durchschnitt zischend die Nachtluft und bohrte sich tief in den linken Unterarm der schwarz gekleideten Gestalt, die den verletzten Arm an sich drückte und im Dunkel verschwand, einen spitzen Schrei ausstoßend.
Am nächsten, sonnig-kalten Morgen hockte Rainald in einen dicken Mantel gehüllt, die Schulter notdürftig in der Schlinge, auf der Dachterrasse seiner Wohnung und überdachte alle Fakten, die er kannte. Erst nach langem Grübeln hatte er feststellen können, was der Eindringling gestohlen hatte. Dabei handelte es sich um die Grundrisse eines wichtigen Privathauses nahe des Nevongarder Gildenmarktes. Diese Grundrisse hätten eigentlich keinesfalls in seinem Privatbesitz sein dürfen, doch nach einer Ermittlung im Auftrage des Stadtrates hatte er die Rückgabe „vergessen“...
Bei den Plänen handelte es sich um die Grundrisse der Stadtvilla des Kaufmannes Gruppler, der als ebenso reich wie skrupellos bekannt war. In einer besonders verzweifelten Situation vor mindestens 15 Jahren, als es um Rainalds Finanzen so schlecht stand wie nie zuvor, hatte er sogar einmal überlegt, bei dem reichen Pfeffersack einzubrechen, diesen waghalsigen Gedanken dann aber wegen der mannigfaltigen Sicherungen des Gebäudes wieder verworfen.
Seine Gedanken kehrten von der Vergangenheit in die Gegenwart zurück und er blickte auf die Gegenstände, die ihm Hinweise auf den Eindringling liefern mochten: Der Kryss, der Schwebestab, der in der Diele zurück geblieben war, sowie ein Stück Gewebe von der spinnenseidenen Rüstung, das er mit seinem Wurfbeil abgetrennt hatte.
Der Kryss war ein schön gearbeitetes Stück guter Qualität, leicht und erstaunlich gut ausbalanciert. Eine Waffe, die im Gomdland nur selten verwendet wurde, die in Bourbon dagegen nicht selten eingesetzt wurde. Rainald grübelte weiter und nahm anschließend den Schwebestab näher in Augenschein. Der magische Gegenstand war von schlichtem Äußeren, und wies keine Auffälligkeiten auf. Doch halt! An einer der Schmalseiten war ganz klein ein Wappen eingeprägt. Rainald zog ein Vergrößerungsglas hervor, das er einst in Kavernik für teures Geld von einem zwergischen Meisterglasschleifer erstanden hatte.
Deutlich traten die Linien des Wappens hervor, fast unwirklich vergrößert, und offenbarten die Herkunft des Stabes: Die Diebesgilde von Lucullaise, einer großen und reichen bourbonischen Stadt. Das letzte Stück, das einen Hinweis bieten mochte, war das Stück Spinnenseide, dass noch mit ausgefransten Rändern an der Schneide des Wurfbeils hing. Doch so sehr Rainald es auch drehte und wendete - es war und bleib ein ganz normales, dicht gewebtes, nicht einmal fingerlanges Stück Spinnenseide. Die Indizien ließen auf einen nächtlichen Besucher aus Bourbon schließen, und Rainald, der ohnehin zur Zeit keinen Auftrag hatte, beschloss, den Eindringling aufzuspüren und zu stellen.
Zu diesem Zweck näherte er sich wenig später dem Nachtmarkt, einem unterirdischen Markt, auf dem legale, halblegale und illegale Geschäfte getätigt wurden. Neben erstaunlich vielen legalen Geschäften fanden sich in den hinteren, dunkleren Gassen auch viele zwielichtige Gestalten und sogar einige Hehler. Rainald pflegte traditionell sehr gute Beziehungen zur Halbwelt, zu Hehlern, Informanten und Bettlern. So war er einer der Wenigen, die wussten, dass die bourbonische Diebesgilde einen kleinen Stand auf dem Nachtmarkt ihr Eigen nannte.
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