Die Jagd nach dem Schattenmantel I
1. Kapitel: Das Ende einer legendären Pechsträhne
von Lennart Hintz
Diese Geschichte beginnt an einem schönen Spätsommertag in der bekannten gomdischen Stadt Nevongard. Die warmen Temperaturen des frühen Abends genießend ließen sich die reichen, wohlhabenden und ärmeren Bewohner in den entsprechenden Restaurants, Gasthäusern, Kneipen oder Absteigen kühle Getränke servieren, um die Strapazen eines mehr oder minder arbeitsreichen Tages zu vergessen.
Besonders beliebt war in diesem Jahr übrigens Sandenhaffer Bier, das bei Bürgern ebenso wie bei Tagelöhnern und Spitzbuben großen Anklang findet. Allerdings muß man zur Verteidigung der oftmals als spießig titulierten Gomdländer anfügen, dass sie auch teuren bourbonischen oder soldalischen Wein sehr wohl zu huldigen wussten.
Einer, der normalerweise als Stammgast in einigen der Etablissements der übleren Art bekannt war, besuchte an diesem Tage eine der edelsten und teuersten Lokalitäten des Ortes. Zwar wirkte er mit seiner unauffälligen, fast schäbigen Kleidung ein wenig fehl am Platze, doch zeigte er sich im Gespräch mit dem etwas blasierten Oberkellner Hubertus Rauffel als Weinkellner von erster Güte.
„Ihr wollt mir ernsthaft erzählen, dass der 1098 Alserra besser sei als der 97er? Zugegeben, der 99er gilt als, nun, etwas überreif, aber die Vollmundigkeit des 97ers ist und bleibt unübertroffen! Bringt mir noch zwei Flaschen davon, aber flott!“ Hubertus war ob dieser Antwort in zweierlei Hinsicht sprachlos: Zum einen schockierte ihn die etwas vulgäre Ausdrucksweise seines Gegenübers, zum Anderen hätte er nur zu gern einige der mäßigen Flaschen des 98er Jahrganges an den Mann gebracht, vorzugsweise an einen Taugenichts wie den, der gerade vor ihm saß. Hubertus bewegte seine Nase dorthin, wo sie vom Oberkellner des „Nevongarder Kaufmannshofes“ üblicherweise getragen wird: Arrogant nach oben zeigend nämlich...
Der etwas anrüchig anmutende Gast vertiefte sich in die Weinkarte des Hauses und freute sich auf den exquisiten 97er Alserra, dessen vollmundiger, üppiger Geschmack jedermanns Gaumen angenehm zu betäuben vermochte. Wie ein typischer Weinkenner sah der Mann allerdings wirklich nicht aus, eher schon wie ein Weinliebhaber, der mehr auf Alkoholgehalt und Preis denn auf den Geschmack achtet.
Er war von drahtiger, zäher Statur, hatte schwarze, etwas zottelige Haare und dunkle Augen, die ihn recht deutlich vom Bild des typischen blonden Gomdländers abweichen ließen. Zum Erstaunen der anderen Gäste trug der Mann ein gefährlich aussehendes Kurzschwert an der rechten Seite – entweder hatte er aus unerfindlichen Gründen die seltene Erlaubnis, innerhalb der Nevongarder Stadtmauern Waffen zu tragen, oder er riskierte ob seiner Pläne und Geschäfte, mit der Obrigkeit in Konflikt zu geraten. Wenig später – Hubertus wollte soeben die zwei bestellten Weinflaschen servieren - traten zwei weitere Gestalten an den Tisch, setzten sich dazu und begrüßten den ersten Gast mit der Vertrautheit alter Freunde.
„Ah, Rainald. Was hat Dich dazu bewogen, uns hierher einzuladen? Selbst ein Bier wird hier mehrere Taler kosten!“ Der Sprecher, Bendix mit Namen, war von mittelgroßem Wuchs, trug die typische Händlerkleidung der Mittelklasse und sprach mit deutlichem albionischem Akzent. Auch an seiner Seite baumelte ein Kurzschwert, das allerdings nicht zu seiner sonstigen Erscheinung zu passen schien.
Rainald antwortete mit breitem Grinsen: „In der Tat, das Bier ist hier unverschämt teuer. Es kostet tatsächlich sogar sechs Taler.“ Bei diesem Preis verschluckte sich der auf Sparsamkeit bedachte Albioner fast und wurde etwas bleich – Sechs Taler entsprachen immerhin zwei Tageslöhnen eines durchschnittlichen Arbeiters. „Aber“, fuhr Rainald fort, „erstens trinken wir kein Bier, sondern einen 97er Alserra, der selbst Deinem ignoranten albionischen Gaumen munden sollte und zweitens ist die Gesellschaft hier allererste Wahl!“ Die zweite, riesenhafte Gestalt, die erst in Erwartung des exquisiten Weines die Kapuze des blauen Capes zurückgeschlagen hatte, fragte verwundert: „Seit wann interessiert dich die Gesellschaft? Aber – ich will mich nicht beschweren, wenn du uns zu einem 97er Alserra einladen möchtest, setze ich mich auch auf die Hafenmauer!“
„Du setzt Dich für jeden Wein auf die Hafenmauer, Baldowan. Und was die Gesellschaft angeht... Schau mal dort am Fenster!“, gab Rainald mit glitzernden Augen und einem Nicken zu zwei ausgesprochen attraktiven Frauen am Nachbartisch zurück. Baldowan, dessen hünenhafter Trollkörper fast bis an die Decke der Gaststube reichte, konnte nicht widersprechen – Alkohol in jedweder Form war seine Schwäche, die beiden menschlichen Frauen hingegen waren ihm trotz ihrer offensichtlichen Attraktivität naturgemäß egal. Nur gut, dass er als Troll einiges vertragen konnte, ohne die Herrschaft über seine Sinne zu verlieren.
Rainald und Bendix wussten allerdings, das in Baldowan einiges mehr steckte, als man üblicherweise von einem Troll erwartete. Seine außergewöhnliche Intelligenz hatte ihm ermöglicht, eine überaus vielversprechende Karriere als Magier zu beginnen und es bei seinen Kampfzaubern zu beträchtlichen Fähigkeiten zu bringen. Einzig seine Liebe zu Bier, Wein und Schnaps konnte ihn eventuell von glanzvollen Erfolgen abhalten; niemand wußte das besser als Rainald, der schon mehr als einmal das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, den schlaffen Körper eines volltrunkenen Trolles in eine miese Absteige zu schleifen.
Wenig später stießen die drei mit dem ersehnten 97er an, den Hubertus serviert hatte, ohne sein Abscheu gegenüber den drei Gästen zu verbergen. „Nun mal ernsthaft, Rainald. Hast Du eine größere Erbschaft erhalten oder eine Bank überfallen?“, wollte Bendix wissen, während er genießerisch das kostbare Kristallglas an die Lippen hob, um eine Winzigkeit der kostbaren Flüssigkeit zu trinken. „Es gibt etwas zu feiern“, antwortete Rainald, der seine Blicke nur schwer von der hübschen, blutjungen Frau am Nachbartisch lösen konnte, die seine Verruchtheit offenbar ebenso anziehend fand wie er ihre langen, welligen blonden Haare. „Ich habe endlich, endlich meine Pechsträhne hinter mir gelassen und eine gutbezahlte, einfache Arbeit gefunden!“
Bendix und Baldowan blickten sich skeptisch an. Rainalds Pechsträhne war nicht nur in Nevongards Halbwelt, sondern auch unter Bürgern, Händlern und Adeligen gut bekannt, so dass er nur schwer lukrative Aufträge als Leibwächter oder Ermittler an Land ziehen konnte. Der Strassenkämpfer galt an sich als ausgesprochen fähig und hätte in diesem Gewerbe mit Sicherheit viel Erfolg haben können, wenn er nicht einige Schwächen gehabt hätte. Er konnte an keiner auch nur halbwegs attraktiven Frau vorbeigehen, ohne direkt einen Annäherungsversuch zu starten – egal, ob ein Ehemann vorhanden oder gar anwesend war oder nicht. Das hatte sich gerade bei reichen Auftraggebern des öfteren als hinderlich erwiesen, besonders weil sich der durchschnittliche nevongardische Kaufmann nur zu gern mit einer jungen, hübschen Frau zu schmücken pflegte. Dazu kam seine Schwäche für einen lockeren Lebenswandel im Allgemeinen und alkoholische Getränke im Besonderen sowie seit einigen Jahren eine fast unerklärliche Pechsträhne.
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