Er zog eine Bola, eine Waffe aus drei gleichmäßig geformten und durch Bänder verbundenen Metallkugeln hervor, ließ sie kurz und geschickt kreisen und warf sie auf Rainalds Füße. Rainald, der sich gerade wieder auf gerappelt hatte, kannte diese Waffe von einer Expedition ins Land der Kentauren. Die Kugeln waren nicht unbedingt zum Töten gemacht, vermochten aber zu betäuben oder ein Opfer zu Fall zu bringen. Der Straßenkämpfer wich aus, war aber nicht schnell genug. Krachend und schmerzhaft wickelte sich die Bola um seine Schienbeine und brachte ihn zu Fall. Noch im Fallen griff er eines der Wurfbeile von der Wand und schleuderte die dekorative Waffe voller Wut hinter der fliehenden Gestalt her. Doch für Wurfwaffen fehlten ihm Talent und Übung, und so zischte das Beil unter dem rechten Arm des geschickten Jünglings hindurch, um sich dahinter in ein kleines Weinfässchen zu graben, dass darauf wartete, angestochen zu werden.
Der Jüngling sprintete zur Dachterrasse, wandte sich halb um und malte ein Zeichen in die Luft, das Rainald vage vertraut vorkam – offenbar das Erkennungszeichen einer Diebesgilde. Der Straßenkämpfer befreite sich blitzartig von der Bola, die seine Schienbeine fesselte und sprintete Richtung Dachterrasse, dabei alle Vorsicht ignorierend. Sobald ihn das Adrenalin einmal übermannte, fokussierte er sich völlig auf ein Ziel. An der Brüstung des Balkons angekommen, erhaschte er einen Blick auf den Eindringling, der soeben leichtfüßig auf einen schmalen Mauersims hinüber sprang, der ca. fünf Meter entfernt und dazu mindestens drei Meter tiefer lag. Rainald zögerte eine winzige Sekunde vor diesem Sprung, doch der Alkohol und das Adrenalin machten ihn äußerst selbstbewusst, um nicht zu sagen übermütig. Außerdem – weitere Wurfwaffen hatte er nicht griffbereit und seine gute alte Schleuder lag ebenso wie die Radschlosspistole gut gesichert in der Truhe in der Wohnung.
Der Straßenkämpfer, dem jahrelanges Training und zahllose Kämpfe hervorragende Reflexe eingebracht hatten, sprang kraftvoll von der Brüstung ab und landete... zu seiner eigenen Überraschung nur leicht schwankend direkt auf dem schmalen Mauersims. Die flüchtende Gestalt rannte anmutig die Mauer entlang und sprang erneut. Rainald stockte vor Bewunderung der Atem, als der Flüchtling elegant durch die Luft segelte, den Ast eines nahen Baumes packte, dort Schwung holte und schließlich auf dem Pflaster der Gosse landete und sich spöttisch vor Rainald verbeugte, den Beutel mit Diebesgut über die Schulter gehängt.
Rainald schwankte zwischen Zorn und Bewunderung, doch erneut gewann der Zorn die Oberhand. Er wählte jedoch einen anderen, vermeintlich sichereren Weg zum Boden, der allerdings weit weniger elegant war. Mit einem entschlossenen Sprung stieß Rainald sich von der Mauerkrone ab, ohne jedoch ernsthaft zu versuchen, den Ast zu erreichen. Einem nassen Kartoffelsack gleich ließ er sich in das dichte Gesträuch neben der Mauer fallen, federte dort einmal ab und stand ebenfalls auf der Straße, spöttisch seine Kappe hebend.
Die – übrigens auffallend leuchtenden - Augen des Jünglings weiteten sich, als er sich überrascht zur Flucht wandte. Rainald stürmte mit großen Sätzen hinterher und packte den Dieb mit der linken Hand an der schmalen Schulter, um ihn zu Fall zu bringen. Der Flüchtende keuchte überrascht auf, riss sich los und zog einen gefährlich aussehenden, langen gezackten Kryss aus einem Spezialhalfter unter dem linken Arm. Rainald, der sich schon bei der abendlichen Feier bei Blaudorn nicht an das Waffenverbot gehalten hatte, zog mit der linken Hand ein kleines, aber fein gearbeitetes schwarzes Stilett aus dem rechten Ärmel und fast im selben Atemzug mit der rechten Hand ein matt schimmerndes Langmesser aus dem Schaft seines linken Stiefels.
Die beiden Kämpfer umkreisten sich vorsichtig und leichtfüßig. Ihr Kampfstil ähnelte sich, und beide schienen den Kampf mit leichten Waffen gewöhnt zu sein. Dennoch war Rainald im Vorteil: Er verfügte über zwei Waffen und hatte zudem auf Grund seiner Körpergröße eine überlegene Reichweite. Er testete die Reflexe seines Gegners mit mehreren schnellen Finten – die Reflexe waren hervorragend, das stand außer Frage. Nach einigen Minuten keuchten beide vor Anstrengung, doch genossen sie den Kampf gleichzeitig fast, waren sie doch beide leichtfüßig und elegant.
Schließlich landete Rainald den ersten Treffer. Er gab sich den Anschein, nach links zu taumeln und öffnete dabei seine rechte Körperseite für einen Angriff. Dieser Angriff kam – blitzartig und geschickt. Doch Rainald, der darauf vorbereitet war, schlug den gezackten Kryss mit seinem Stilett nach oben und rammte wenig später sein Langmesser in die Hüfte des Jünglings, der leicht auf keuchte und den Kopf schüttelte. Leicht tropfte das Blut auf den gepflasterten Boden, nur schwer erkennbar im Licht einiger weit entfernter Straßenlaternen.
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