Orbis Incognita
Orbis Incognita - Das Rollenspiel
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Schwerttanz und Intrigen

1. Kapitel: Von Ruhe und Meditation

von Lennart Hintz

Andrej schüttelte mißmutig einen Schweißtropfen ab, der ihm unter dem Visierhelm in der Augenbraue hing. Der Paladin hielt es nicht für eine gute Idee, in der mittäglichen Hitze diesen Übungskampf abzuhalten, aber sein Mentor Gregorian war unerbittlich. Andrej wappnete sich, dem nächsten Angriff des alten Kämpen entgegenzutreten, duckte sich hinter seinen Schild und hob sein Breitschwert zur Parade. Er fing Gregorians Stoß fast mühelos ab, verlagerte sein Gewicht und wehrte auch den nächsten Stoß spielerisch ab.

Gregorian schien ebenso unter der Hitze zu leiden wie Andrej, denn er kämpfte bei weitem nicht so konzentriert wie sonst. Als Andrej dem ehrwürdigen Orden des Chevillion beigetreten war, hatte Gregorianus schon bald die Vormundschaft übernommen und begonnen, den jungen Soldalier auszubilden. Lange hatte es gedauert, bis Andrej dem alten, zähen Gregorian im Kampf auch nur annähernd gewachsen war. Heute jedoch witterte er die Chance, seinen Mentor zu besiegen. Energisch, wenn auch etwas ungestüm, bedrängte er den älteren Ritter und schaffte es fast einen Treffer zu setzen, indem er einen weiten Ausfall machte. Gregorian tänzelte leichtfüßig zurück und parierte den Angriff mit seinem Schwert.

Gregorian bevorzugte ein leichtes, gut ausbalanciertes Schwert und eine vergleichsweise geschmeidige Kettenrüstung, während Andrej seine ungestüme Kraft nutzte, um sich mit einem massiven Plattenpanzer zu schützen und ein schweres Breitschwert zu schwingen. Auf dem offenen Übungsplatz war Andrejs schwere Ausrüstung nicht von Nachteil und so drang er erneut mit großer Kraft auf den älteren Mann ein, der sich jetzt darauf beschränkte, die Schläge seines Schützlings zu entschärfen. Andrej versuchte, seine Konzentration auf Chevillion zu fokussieren, um alle Ablenkungen aus seinem Geist zu verbannen und einen Treffer zu setzen. Er täuschte links, wand sich nach rechts, täuschte nochmals und stürzte sich dann voller Vorfreude auf die scheinbar ungeschützte linke Seite seines Mentors. Gregorian brachte sein Schwert im letzten Moment unter Andrejs Breitschwert und leitete die gesamte Energie des Stoßes an sich vorbei, um dem Angreifer dann blitzschnell einen Stoß mit dem Schwertknauf zu versetzten.
Andrej taumelte nur einen kurzen Moment, aber das genügte Gregorian bereits, um ihm das Breitschwert aus der Hand zu schlagen. Andrej senkte verärgert den Kopf und spürte siedendheiße Wut in sich aufsteigen. Gregorian hatte seine Schwäche nur vorgetäuscht und ihn eiskalt in eine Falle laufen lassen! „Ich weiß, was in dir vorgeht, mein Junge!“ „Nenn mich nicht `Junge`“, dachte Andrej verärgert. „Du denkst, ich hätte unritterlich gehandelt, als ich Schwäche vortäuschte? Du hast recht. Aber als Dein Lehrer muß ich dir deine Schwäche vor Augen führen. Dein Talent ist groß, ohne jeden Zweifel. Aber wann wirst Du endlich zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit finden? Glaube, Geduld und Präzision sind die Waffen, die uns zu den besten und edelsten Kämpfern des Nordreiches machen! Geh nun meditieren, ich erwarte dich zur Vesper in meiner Kammer. Und mit einem kurzen Wink bedeutete er Andrej, den Übungsplatz zu verlassen.

Der junge Paladin ging schweigend davon, um seine aufbrodelnden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Sicher, Gregorian hatte ihm erneut vor Augen geführt, dass ihm die Selbstbeherrschung fehlte. Doch was war schon ein Übungskampf? Er wollte hinaus, einen neuen Auftrag vom Orden erledigen oder... Oder sogar ein neues Abenteuer mit seinen Freunden Sirion, Bendix, Baldowan und Rainald erleben!
Andrej dachte an ihren letzten Auftrag vom jungen, reichen Kaufmann Rudolph Blaudorn zurück. Sie hatten gemeinsam eine Intrige um die Kaufmannsdynastie aufgeklärt und dabei gemeinsam mannigfaltige Gefahren durchgestanden. Doch seit diesem Abenteuer war die Klinge von Andrejs Schwert trocken geblieben, weil Nevongard eine kurze friedliche Phase durchlebte.

Andrej seufzte, straffte die Schultern und zog sich in seine kleine Kammer zurück, wo er zu meditieren pflegte.
Der Orden des Chevillion stellte seinen Brüdern kleine, spartanische Zellen zur Verfügung, die mit einer Holzpritsche, einer einfachen Decke und einem Stehpult ausgestattet waren. Achtlos warf der junge Paladin sein Breitschwert auf die Pritsche, wo es mit einem leisen Knirschen in die alte Decke fuhr. Andrej versuchte, auf dem harten Boden kniend in Meditation zu versinken.
Zu meditieren war eines der Dinge, die der alte Gregorian ihm beigebracht hatte. Indem man den Geist fokussierte – etwa auf das Gebet – konnte man sich bei entsprechender Konzentration in eine Art von Trance versetzen, die ähnlich erholsam und beruhigend wirkte wie ein langer, tiefer Schlaf. Unter Gregorians Anleitung hatte Andrej zunächst gute Fortschritte gemacht, doch heute wollte es ihm nicht gelingen, den Geist zu leeren und zu beruhigen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen beschloß er, sich auf eine etwas weltlichere Art und Weise zu entspannen.

Andrej nutzte die vor der Vesper verbleibende Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt Nevongard, die ihn mit ihrem üblichen bunten Treiben aufnahm. Fliegende Händler priesen ihre Waren an, Straßenmusiker versuchten, mit wenig Talent und großer Ausdauer, ein wenig Geld zu verdienen.

 

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