Orbis Incognita
Orbis Incognita - Das Rollenspiel
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4. Kapitel: Unerwarteter Tod, unerwarteter Reichtum

Bendix starrte auf die handgeschriebene Liste, die vor ihm auf dem Stehpult lag. Er selbst hatte auf dem Pergament die letzten Wareneingänge verzeichnet. Alles stimmte perfekt mit dem Bestand im Kontor überein. Lediglich die Spalte "Warenausgänge" war zu Bendix' großem Unmut noch immer gänzlich leer, daran hatten auch seine letzten Gespräche mit den Wirten der Stadt nichts geändert.

Bendix plante, eine Liste mit allen seinen geschäftlichen Kontakten zu erstellen, doch konnte er sich nicht konzentrieren. Unablässlich kreisten seine Gedanken um das verschwundene Schmuckstück der Blaudorns. War der teure Edelstein verloren gegangen oder handelte es sich um einen geschickten Diebstahl? In jedem Falle würde der Kaufmann dem Finder eine satte Belohnung bezahlen, genug jedenfalls, um die Kontormiete für einige Monate, wenn nicht Jahre, zu begleichen.
Außerdem könnte er sich dann endlich eine neue Waffe leisten. Erst kürzlich hatte er bei Derbosch, dem zwergischen Meisterwaffenschmied, die Balance einiger hervorragend gearbeiteter Kurzschwerter ausprobiert. Leider verlangte der Zwerg exorbitante Preise und weigerte sich prinzipiell, mit Kunden, die keine Zwerge waren, zu feilschen. Nun ja, solche Tagträumereien allein würden Blaudorns Schmuckstück kaum zurückbringen, und so beschloß Bendix, einige dezente Nachforschungen anzustellen. Es war ohnehin kaum mit Kundschaft im Kontor zu rechnen und wenn zu seinem Erstaunen doch jemand den Weg in den Laden finden würde, könnte Rainald sich darum kümmern. Der Strassenkämpfer lag derweil friedlich schnarchend auf einem Tuchballen und brabbelte leise vor sich hin.

Bendix marschierte nach einer kurzen Denkpause hinab zum Flusshafen der Stadt Nevongard, um einige Auskünfte einzuholen. Der Freihändler arbeitete zunächst nach einer von zwei möglichen Theorien, nämlich nach der, dass Blaudorns Schmuckstück gestohlen worden war. In diesem Fall, so nahm der Albioner jedenfalls an, musste der Dieb von der nevongardischen Hauptinsel auf die Garteninsel hinübergefahren sein. Blieb nur zu hoffen, dass er dabei Spuren hinterlassen hatte oder gesehen worden war.
Bendix schlenderte zum hinteren, etwas heruntergekommenen Teil des Hafens, in dem vorwiegend Fischerboote und kleine Kähne vertäut waren. Hier roch es intensiv nach Fisch, nach Firnis und nach schmutzigem Wasser. Die Seemänner hier waren zumeist altgediente Flussbootfahrer, die sich mit Fischfang, Gelegenheitsarbeiten und ein wenig Schmuggel im wahrsten Sinne des Wortes mühsam über Wasser hielten. Die Boote waren aus einfachen Holzplanken gezimmert und boten Platz für fünf oder sechs Personen. Wollte man unerkannt von Nevongard ans Ufer des Gomd oder aber auf die Garteninsel gelangen, so waren die alten Flussbootfahrer hier die richtigen Ansprechpartner. Bendix sog die süßlich-faulige Luft durch die Nase und spuckte verächtlich aus. Als Freihändler bevorzugte er eine frische, salzige Brise und nicht dieses widerliche Süßwasser!

Dennoch war es an der Zeit, einige alte Gefälligkeiten einzulösen. Bendix trat leise an einen alten Flussbootfahrer heran, der in seinem Kahn hockte und ein altersschwaches Netz zu flicken schien, dessen große Löcher jeden Fisch erfreuen mussten. Der junge Albioner sprang mit einem geschickten Satz von der Pier auf den Kahn und setzte sich neben den Alten. Dieser erstarrte kurz vor Schreck und riss dann mit unerwarteter Behändigkeit ein schmutziges Fischmesser aus dem Stiefelschaft und hielt es drohend unter Bendix Nase.
Doch der winkte freundlich ab. "Kein Grund für eine Messerstecherei, Alter. Du hoffst doch nicht etwa, mit diesem Netz auch nur einen Fisch zu fangen, oder?" Der Alte grinste kurz und entblößte dabei drei gelbliche Zahnstummel, bevor er vielsagend mit dem Kopf schüttelte. Natürlich, das Netz war bloß als Tarnung gedacht. "Alter, ich brauche deine Hilfe."

Schlagartig verschwand das freundliche Grinsen vom faltigen Gesicht und der Mann begann, mit aller Konzentration an seinem Netz zu flicken. Bendix berichtete von den Geschehnissen auf der Garteninsel und erkundigte sich dann: "Hast du gestern irgendwen übergesetzt?" Ein kurzes Nicken.
"Und wen, wenn ich fragen darf?" Der Flussbootfahrer antwortete mit sichtlicher Anstrengung: "Junger Schnösel. Fremde Frau. Liebespaar. Wollten nicht gesehen werden." Nach dieser rhetorischen Anstrengung versank der Mann wieder in Schweigen und zog einen dicken Priem aus der Tasche. "Wie sahen die beiden aus?" "Weiß nicht. Südländisch. Harmlos. Habe sie abends wieder abgeholt."
Der Alte kaute mühsam auf seinem Priem und bot Bendix einen Streifen an, der aber höflich ablehnte. "Sonst noch wer?" Keine Reaktion. Dann ein Achselzucken. Offenbar wurde es allerhöchste Zeit, die Tonart zu wechseln. "Erinnerst du dich noch an die Schmuggelgeschichte mit Zollinspektor Maisenhaupt?" Ein kurzes Blinzeln war die einzige Reaktion, doch war sich Bendix absolut sicher, dass der Flußbootfahrer sich an diese Geschichte erinnern musste.

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