5. Kapitel: Die Jagd nach dem Schattenmantel
Wenige Tage später spazierten Baldowan, Bendix, Rainald und Alicia über den Gildenmarkt Nevongards und zogen dabei allerlei Aufmerksamkeit auf sich. Baldowan schwenkte laut grölend einen großen, tönernen Weinkrug, Rainald warf jeder passierenden Dame obszöne Sprüche zu, die Alicia ein- ums andere Mal laut aufstöhnen ließen und Bendix rundete das ganze ab, indem er lauthals albionische Witze von sich gab, die sich an Niveaulosigkeit nur so unterboten. Er hoffte nur, keinem der legendären Hochlandkämpfer zu begegnen, da die meisten albionischen Witze ziemlich bissig über die unverständliche Sprache, die Sturheit und die Zecherei der Hochländer herzogen. Allerdings kamen die rauhen Krieger nur selten nach Nevongard.
Während die kleine Gruppe laut und auffällig durch Nevongard zog und dabei langsam Richtung Nachtmarkt strebte, schoben sich zwei weitere Gestalten weitaus unauffälliger hinterher und beobachteten sorgfältig, wer Interesse an der Gruppe zeigte.
Schließlich erreichte Baldowans Gruppe den "Schwarzen Drachen" am Nachtmarkt und betrat die Kneipe. Schlagartig wurde es still, als der große Troll einen der leeren Tische mit einem beiläufigen Fußtritt zurechtrückte und dann mit lauter Stimme polterte: "Wein, Herr Wirt! Aber ein bisschen plötzlich!" Der Wirt erbleichte und schickte schleunigst eine seiner Kellnerinnen mit zwei Weinkrügen zum Tisch der Freunde. Langsam setzten die Gespräche an den umliegenden Tischen wieder ein und bald erreichte der Lärmpegel die übliche beeinduckende Lautstärke.
Baldowan schaute sich die Gesichter der anderen Gäste eingehend an, konnte jedoch niemanden erkennen. Seine fragende Kopfbewegung beantworteten Rainald und Bendix mit einem unmerklichen Kopfschütteln. Nein, auch sie hatten niemanden erkannt. Nun, man musste die Möglichkeit nutzen, überlegte Baldowan, und setzte in aller Ruhe einen der Weinkrüge an, um einen tiefen Zug zu nehmen. Ihm blieb sowieso viel zu selten Zeit, einen anständigen Schluck zu nehmen!
An den umliegenden Tischen tummelten sich die üblichen zwielichtigen Gestalten, die auf dem Nachtmarkt zu Hause waren. In einer Ecke hockte ein kleiner, jämmerlicher wirkender Soldalier, dessen Hände unglaublich flink mit einem gigantischen Kartenstapel hantierten. Ungeachtet seines schäbigen Aussehens hätte Baldowan gewettet, dass der kleine Südländer ein gewitzter Spieler war, der seine Gegner bis auf das Hemd auszunehmen verstand.
In einer anderen Ecke stand ein gigantischer Kerl, fast so groß wie Baldowan, vor einem riesigen Bierkrug und leckte sich mit einer widerlich großen Zunge genießerisch die Lippen. Die an den Wänden befestigten Fackeln tauchten die ganze Szenerie in ein unwirkliches, fast romantisches Licht, das Tun und Treiben an einem weiteren Tisch untermalte. Ein gut gekleideter junger Mann, möglicherweise ein Händler, vergnügte sich mit zwei jungen Dirnen, die auf seinem Schoß Platz genommen hatten. Während die eine seine Schultern massierte, spielte die andere, eine dunkle Schönheit, lasziv mit seiner prallen Börse. Es sollte Baldowan nicht wundern, wenn dieser junge Kerl den "Schwarzen Drachen" mit einer wesentlich leichteren Börse wieder verlassen würde.
Der Troll seufzte und nahm einen weiteren Zug aus dem mittlerweile halbleeren Krug. Sicher, hier gab es einige Kriminelle und noch wesentlich mehr zwielichtige Gestalten, aber was ihr eigentliches Vorhaben anging...
Plötzlich spürte er etwas kaltes, hartes, seitlich am Hals. Als er sich der Bedrohung zuwenden wollte, verstärkte sich der Druck und eine unangenehme Stimme zischelte: "Mitkommen. Kein Laut! Ihr anderen nichts machen, sonst er tot" Der Sprecher hatte einen unverkennbaren Akzent, zweifelsohne den der Fürstentümler. Unauffällig schob der Angreifer Baldowan vor sich her zu einer Tür, die seitlich von der Theke gut verborgen war. Den Freunden bedeutete er, noch vor Baldowan zu gehen und die Türe zu öffnen.
Sie gingen einen langen, düsteren Korridor entlang, der so niedrig war, dass Baldowan ständig den Kopf einziehen musste. Zwei Abbiegungen und eine Kreuzung später schob sie der Fremde in einen großen Raum, indem sie schon von insgesamt acht Schlägern erwartet wurden, die verschiedene Schußwaffen bereithielten. Baldowan zählte zwei Donnerbüchsen, zwei Pistolen und eine Armbrust, doch als er die Gegner näher anschaute, verließ ihn der Mut. Mirkov war nicht unter ihnen!
Baldowan begann lauthals zu fluchen und hätte am liebsten aus purer Frustration seinen Bewacher abgeschüttelt, doch das war viel zu gefährlich - noch.... Nun trat einer der Männer aus dem Schatten an der hinteren Wand nach vorn und schlug seine Kapuze zurück. Kurioserweise hatte Baldowan diesen Mann zuvor nicht bemerkt, obwohl der Raum recht klein war. Es handelte sich um Mirkov, den Kopfgeldjäger aus den Fürstentümern, der sich nun versonnen in seinem grauen, verfilzten Bart kratzte, was einige Läuse in Aufruhr versetzte.
"Endlich habe ich euch. Ihr stören ... Geschäfte!" "Was willst Du tun? Uns alle töten?" fragte Rainald verächtlich und spuckte Mirkov vor die Füße. "Keine schlechte Idee, Ratte. Aber erst: Waffen runter!" Seine Schläger hoben drohend ihre Waffen und zielten auf die Freunde. Zwar glaubte Baldowan nicht, dass Mirkov besonders gute Schützen angeheuert hatte, jedoch waren Donnerbüchsen auf so engem Raum äußerst verheerend. Mit ihnen konnte man Schrot, kleine Nägel oder andere Häßlichkeiten verschießen. Baldowan zuckte mit den Schultern und warf seinen Degen auf den Boden. Er bevorzugte ohnehin Zauber, oder, wenn nicht zu vermeiden, waffenlosen Kampf, um seine große Kraft besser einzusetzen. Bendix und Alicia folgten und ließen ein ansehnliches Waffenarsenal auf den rauhen Holzfußboden gleiten.
Mirkovs Kopf ruckte zu Rainald, der sich langsam seines schartigen Reservekurzschwertes entledigte. "Wirds bald? Ich weiss genau, was du bei dir haben!" "So?" antwortete Rainald gedehnt und ließ seinen Schlagstock und seinen Totschläger zu Boden gleiten, die er in der Gürteltasche verborgen gehabt hatte. "Weiter!", forderte ihn Mirkov auf. Rainald schoß einen finsteren Blick auf den Fürstentümler ab und zog dann mit resigniertem Grinsen das Stilett aus der Unterarmscheide und ließ es mit bedauerndem Achselzucken fallen. "So gut." knurrte Mirkov. Rainald frohlockte innerlich, da der Kopfgeldjäger ihm ein kurzes Messer im rechten Stiefel und einen kleinen, runden Gegenstand gelassen hatte. Nicht, das es ihm viel Nutzen würde, aber es tat dem Stolz immer gut, einen Feind zu übertölpeln...
Baldowan beschloß, auf Zeit zu spielen. "Wieso hast du eigentlich das Lager überfallen?" Mirkov lächelte arrogant, als er antwortete: "Jean-Claude ist Konkurrent. Wir haben besseren Stoff, mehr Stoff!" Mit diesen Worten zog er triumphierend ein Wachstuchbeutelchen heraus und hielt Baldowan eine weißlich-krümelige Substanz unter die große Nase. Rainald näherte sich von der Seite und begutachtete die Probe mit fachmännischer Miene und nickte dann. "Ja, das ist gute Qualität, ohne Frage!" Mirkov grinste gehässig. "Ja, ihr dürfen ruhig sehen. Werdet nicht mehr viel sehen und noch weniger erzählen. Ihr bald alle tot!" Doch plötzlich erstarrte sein grinsen zu einer Maske. "Was hast Du da?", fragte er und versuchte, Rainald einen kleinen, silbernen Gegenstand aus der Hand zu reißen. Der Strassenkämpfer zog die Hand zurück, bevor er antwortete. "Keine Waffe...". Der Kopfgeldjäger beorderte zwei seiner Männer nach vorn, die den Strassenkämpfer durchsuchen sollten.
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