4. Kapitel: Das Gefängnis
Einige Stunden später saßen Baldowan und Bendix im Besucherraum des städtischen Gefängnisses und diskutierten mit Rainald über die letzten Geschehnisse. Als Baldowan von seinen Nachforschungen über Artefakte berichtete, wurde Rainald hellhörig. "Der berühmte Schattenmantel! Die Diebe müssen den Schattenmantel gefunden haben!" "Moment mal, nicht so schnell!", unterbrach Baldowan. "Was ist der Schattenmantel?" Rainald begann sofort, seinen beiden Freunden von diesem legendären Artefakt zu berichten.
"Es geht die Legende, wirklich nur die Legende, dass der berühmte Meisterdieb Richard Noir einst mit drei gewaltigen Artefakten aus Bourbon hierhergekommen ist, um die reichen Nevongarder Pfeffersäcke auszurauben. Das erste war die Lampe des bösen Irrlichtes, das nur dem Träger allein leuchtete. Mit dieser Lampe konnte man sich also des Nachts einen gewaltigen Vorteil verschaffen, weil die Wächter den Lichtschein nicht sehen konnten. Ein mächtiger Illusionszauber!" "Und das zweite?"
"Richard Noir hatte außerdem den "Hauch der Begierde", ein kleines, unauffälliges Blasrohr, mit dem sich kleine Metallkugeln verschießen lassen. Wird man von einem solchen Geschoß getroffen, packt einen sofort irgendeine Begierde, die dich alles andere vergessen läßt. Kaum jemand kann diesem Zauber widerstehen." "Und der Schattenmantel?"
"Nun ja, der Schattenmantel verbirgt seinen Träger vor jedem neugierigen Blick und ist ein wahrer Freund jedes Diebes. Außerdem heisst es, der Schattenmantel könne andere, schwächere Artefakte zerstören." Bendix´ Augen begannen, unternehmungslustig zu leuchten. "Was ist aus den Artefakten geworden?" "Diese Geschichte ist nur eine Legende, das darfst du nie vergessen. Es heißt, der "Hauch der Begierde" sei von einer unbekannten Hexe aus Fernland geraubt worden, während Richard Noir im Urlaub in Lagunata seine Beute verprasste. Anschließend verlor er das "Böse Irrlicht" durch Verrat an einige soldalische Paladine, die das gute Stück zerstört haben sollen.
Einzig der Schattenmantel scheint nie vernichtet worden zu sein. Allerdings glaubte ich bis vor Kurzem, das er irgendwo in den Katakomben unter den Kanälen Lagunatas versteckt ist. Vielleicht habe ich mich geirrt?"
Baldowan wechselte abrupt das Thema. "Rainald, hast du eine Idee, wer der zweite Dieb sein könnte?" "Zweiter Dieb?", fragte Bendix völlig verdattert.
"Das ist die einzige Lösung, nicht wahr?" Rainald nickte. "Den ersten, der jetzt mein Zellennachbar ist, hast du geröstet. Da ich mit meinem Schwert einen anderen getroffen habe, müssen es zwei Diebe gewesen sein, und zwar ziemlich mächtige, falls sie wirklich den Schattenmantel haben." Jetzt fiel es Bendix wie Schuppen vor die Augen. Natürlich! Das konnte die Lösung sein.
"Aber was haben Mirkov und seine Schläger mit der Geschichte zu tun?" Rainald grübelte einen Moment und erklärte dann: "Eigentlich dachte ich, dass Markus und Mirkov nur zufällig aneinandergeraten wären, aber möglicherweise macht Mirkov auch die Drecksarbeit für das neue Syndikat aus den Fürstentümern? Ich habe gehört, dass er in letzter Zeit kaum noch Erfolge als Kopfgeldjäger verzeichnen konnte."
Baldowan ging mit großen Schritten im Besucherraum hin- und her und kratzte sich an der juckenden Schulter, die unter dem Lederpanzer dick bandagiert war. Er hatte Glück gehabt, die Pistolenkugel im "Schwarzen Drachen" war glatt in die Muskulatur eingeschlagen und hatte weder Knochen noch Sehnen verletzt.
"Ob wir Jean-Claude und seine Bourbonen festsetzen können, weiß ich nicht. Aber irgendwie muss es uns gelingen, Mirkov und seinen Leuten den Einbruch ins Lagerhaus nachzuweisen. Dann bist Du aus dem Schneider, Rainald." Der Strassenkämpfer nickte. "Tja, du hast Recht! Es wird höchste Zeit, diesen Laden hier zu verlassen. Übrigens war Blaudorn hier und wollte Kaution stellen, aber der verfluchte Hermanis wollte nicht!" Die Freunde blickten ihn mitleidig an und suchten nach einer Lösung. "Sag mal, wo hast Du den anderen Dieb eigentlich mit deinem Schwert getroffen?" Rainald überlegte kurz und antwortete dann: "Am Oberschenkel oder an der Hüfte, aber sicher bin ich nicht, es war einfach zu dunkel." Bendix rief sich die Szene im "Schwarzen Drachen" ins Gedächtnis und ließ den Kampf vor dem inneren Auge nochmal ablaufen.
Irgendetwas war merkwürdig gewesen. Mirkov hatte sich, nun, unsicher bewegt. Bendix überlegte nochmals und war sich ziemlich sicher. Der Kopfgeldjäger schien ein leichtes Humpeln an den Tag zu legen.
Rainald und Baldowan blieben skeptisch. Das Humpeln konnte alle möglichen Gründe haben, zudem war sich Rainald noch nicht einmal sicher, wo er die schemenhafte Gestalt überhaupt getroffen hatte. Dennoch wiesen die Indizien auf Mirkov als Einbrecher und Mörder hin.
Baldowan kratzte sich erneut mit aller Vehemenz an der Schulter und ließ sich ihre Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Mirkov war entkommen und möglicherweise schon drauf und dran, die Stadt zu verlassen. Oder würde der Kopfgeldjäger in Nevongard untertauchen? Möglichkeiten genug gab es, dachte man nur an den Nachtmarkt und die zahlreichen Spelunken im Hafenviertel, in denen zwielichtiges Gesindel nach Herzenslust ein- und ausgehen konnte.
"Wir müssen den Schlupfwinkel von Mirkov und einen Leuten finden, vielleicht können wir dann beweisen, dass er in Jean-Claudes Lagerhaus eingebrochen ist. Und", er machte eine bedeutungsvolle Pause, wir müssen den Dieb in Rainalds Nachbarzelle ausquetschen." Bei diesen Worten hämmerte er wütend mit seiner übergroßen Faust auf den Tisch, der bedenklich knarzte. "Ich habe auch schon einen Plan.... Er ist allerdings nicht ganz ungefährlich, insbesondere nicht für dich, Rainald." Der Strassenkämpfer zuckte nonchalant mit den Achseln und Baldowan beugte sich vor, um seinen Plan zu erläutern.
Am späten Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, saßen zwei junge Wächter der Stadtwache gelangweilt an ihrem Tisch vor dem Eingang zum Gefangenentrakt. Sie hießen Gerd und Olaf und hatten als jüngste Soldaten der Stadtwache die undankbare, aber einfache Aufgabe übernommen, während der Nacht den Haupteingang zum Zellenblock zu überwachen. Die beiden saßen gelangweilt an einem schäbigen Tisch und spielten Kazägge. Während Hellerbeträge auf dem Tisch hin- und hergeschoben wurden, wechselte auch eine Flasche Landwein von Mann zu Mann. Was sollte hier schon passieren? Keiner der Gefangenen wirkte gefährlich, und außerdem waren die Schlösser der Zellen gerade erst ausgetauscht worden.
Olaf blickte in seine Karten - die zum ersten Mal seit langer Zeit gut zu werden versprachen - und versuchte, aus Gerds Miene Aufschluß über dessen Karten zu bekommen. Doch Gerds einfältiges Bauerngesicht verriet wie immer nichts. Olaf beschloß, ein wenig mehr zu riskieren und erhöhte den Einsatz um zwei Heller. Sein Gegenüber nahm einen tiefen Zug aus der Flasche und schob mit einem breiten Grinsen ebenfalls zwei Heller in die Mitte des Tisches. Olaf betrachtete die kupfernen Münzen, die im Fackelschein rötlich blitzten und ließ seinen Blick zum Gesicht des Gegners wandern und schob weitere zwei Heller auf den Haufen zwischen ihnen. "Feuer! Hilfe!", hallte in diesem Moment eine gellende Stimme aus dem Gefangenentrakt. Die beiden Wächter starrten eine lange Sekunde in Richtung der Schreie, bevor sie in hektische Betriebsamkeit verfielen.
"Schnell, wir müssen die Gefangenen aus den Zellen lassen, bevor sie verbrennen!" Olaf riß den Schlüsselbund vom Haken und sprintete los. Gerd zögerte einen Moment, entschloß sich aber dann, Alarm zu schlagen und dafür zu sorgen, dass man das Feuer löschen würde.
Der jugendliche Eifer ließ beide ihre Schwerter vergessen, die ruhig glänzend an der Wand neben dem verlassenen Spieltisch lehnten. Gerd rannte hektisch aus dem Gefangenentrakt hinaus und ließ seine Blicke suchend die Gänge entlang schweifen, doch konnte er weit und breit keinen anderen Soldaten der Stadtwache entdecken. Kurz vor dem Haupttor entdeckte er endlich jemanden, der wartend an der Wand zu lehnen schien. "Schnell, es brennt! Wir brauchen Hilfe!", keuchte der junge Soldat. Die Gestalt, die merkwürdigerweise weder Rüstung noch Schild der Stadtwache trug, drehte sich langsam um. Im nächsten Moment wurde es dunkel vor Gerds Augen und er sackte zusammen. Bendix rieb sich die schmerzenden Knöchel seiner rechten Faust und zog den Ohnmächtigen ins Dunkel zurück, wo Baldowan auf ihn wartete. "Nun wird es nicht mehr lange dauern, denke ich, "sagte der Troll, "ich hoffe nur, Rainald hat alles richtig gemacht!"
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