Orbis Incognita
Orbis Incognita - Das Rollenspiel
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3. Kapitel: Ein dicker Magier und ein zwielichtiger Kopfgeldjäger

Baldowan stapfte schwerfällig den kurzen Weg zum Tempelmarkt hinunter, an dem auch die örtliche Magiergilde lag. Er gehörte der Gilde erst seit kurzem an, genaugenommen erst, seit er und seine Freunde sich um die Rettung der Kaufmannsdynastie Blaudorn verdient gemacht hatten. Ohne diese Reputation hätte er als Troll trotz seiner überragenden Feuerzauber kaum eine Chance gehabt, in den erlesenen Kreis der Nevongarder Magier aufgenommen zu werden.
Baldowan betrat das ehrwürdige Haus am Tempelmarkt und spürte sofort die Aura starker Magie, die von den anderen Magiern, zahlreichen Artefakten und hochwertigen Zauberbüchern ausging. Doch heute nahm er sich nicht die Zeit, in den Büchern zu stöbern, sondern suchte den obersten Magier Nevongards, den alten, bärtigen Vishnu. Vishnu stammte aus Nevongard, hatte aber viel Zeit im Südreich verbracht und dort wahrhaft unaussprechliche Dinge gesehen und erlernt. Schnell hatte Baldowan den alten Magier gefunden. Er ruhte schlafend in einer Hängematte im Atrium und ließ sich die Sonne auf den üppigen Wanst scheinen. Baldowan beschloß, ihn mit einem Zauber zu wecken, denn wenn man den Alten beispielsweise an der Schulter rüttelte, konnte es passieren, dass er vor Schreck einen mächtigen Abwehrzauber wirkte. Ein bisschen paranoid hatten ihn die Erfahrungen im Südreich schon gemacht!
Baldowan spähte durch den Torbogen zum Hof und schickte einen dünnen, schwachen Feuerstrahl in den Hof, der zentimeterscharf an Vishnus Wanst vorbeiwaberte und hinter ihm in der Fontäne eines skulpturengeschmückten Brunnens verdampfte. Vishnu, der die Magie selbst im Schlaf gespürt haben musste, schoß in die Höhe und blickte sich um. "Ah, der junge Baldowan! Ich habe dich an deinem Feuerstrahl erkannt. Jeder andere hätte mich versehentlich geröstet!" Baldowan verneigte sich ehrfürchtig und trat in den Hof hinaus. "Was kann ich für dich tun, mein Junge?" fragte Vishnu höflich und ließ sich auf einem der großen Kristallblöcke nieder, die im Hof lagen.

Baldowan zog das Fernglas hervor, das Markus vor seinem Tod benutzt hatte. "Kannst du mir sagen, warum dieses Artefakt nicht mehr funktioniert?" Vishnu nahm das Fernglas entgegen und begutachtete es von allen Seiten, strich mit seinen knochigen Fingern darüber und schaute hindurch. Dann zog er einen kleinen, rötlich glänzenden Stein aus seiner Robe und klemmte ihn vor sein Auge. Dann hob er das Fernglas erneut an und betrachtete es eingehend.
"Nun, mein Junge, genau kann ich es dir nicht sagen. Nur eines ist gewiss: Dieses Artefakt ist kaputt." Baldowan wußte, dass Artefakte im Allgemeinen sehr selten, eigentlich nie, von allein kaputt gingen, dafür sorgte die magisch verstärkte Struktur. Vor längerer Zeit hatte er auf einer seiner Reisen nach Thursgard gesehen, wie ein wütender Troll versucht hatte, ein Artefakt mit seinem überdimensionalen Zweihänder zu zerhacken. Er hatte mehrere Schläge gebraucht, und am Ende hatte sein großes Schwert eine tiefe Scharte aufgewiesen. Er konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart und wandte seine Konzentration Vishnu zu. "Kann es bei einem Fall oder einem Zusammenprall zerstört worden sein?" Vishnu strich sich lächelnd über den Bart. "Diese Antwort kennst du selbst, oder nicht, mein Junge? Sie lautet nein, völlig ausgeschlossen. Dieses Artefakt war von hoher Qualität." Baldowan nickte. Diese Antwort hatte er vorhergesehen, allerdings war ihm die Bestätigung seines eigenen Urteils wichtig gewesen.
Vishnu langte unterdessen mit seinen kurzen, dicken Fingern unter die Hängematte und zog eine Kristallflasche hervor, aus der er zwei kleine Gläser mit einer tiefschwarzen Flüssigkeit füllte. "Edelster Branntwein aus dem albionischen Hochland. Prost!" Baldowan, der den Geschmack eines solch edlen Tropfens natürlich zu würdigen wusste, erhob sein Glas und nickte dem älteren Zauberer dankend zu.
Vishnu schwenkte die Flüssigkeit in seinem Glas und strich sich wohlig über den enormen Wanst. "Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Einen Zauberer oder ein stärkeres Artefakt!" Baldowan blickte ihn fragend an und nahm sich die Freiheit, ihre Gläser großzügig nachzufüllen. "Nun, ein sehr guter Zauberer könnte ein Artefakt mit einem komplizierten Ritual zerstören. Allerdings", er erhob seinen dicken Zeigefinger, "gibt es nur wenige Zauberer, die solche Rituale beherrschen, denn es handelt sich dabei nicht um die üblichen, leichten Standardrituale, wie sie an den Universitäten gelehrt werden. Zwei Dinge sprechen weiterhin dagegen: Wenn zur Zeit ein so mächtiger Magier in Nevongard weilen würde, müßte ich das eigentlich wissen, und außerdem hättest du den Zauber spüren müssen. Oder warst du zu betrunken?", schoß Vishnu eine bissige, aber nicht unberechtigte Frage ab, die Baldowan erröten ließ. "Nun, es ging..." Vishnu winkte ab. "Auch ich verabscheue einen guten Tropfen nicht, allerdings solltest du bedenken, dass Alkohol den Geist verfinstert und der Forschung äußerst abträglich ist!" Baldowan senkte den Kopf. Bisher hatte ihn der Alkohol noch nicht vom Denken abgehalten, glaubte er jedenfalls behaupten zu können.
"Die zweite Möglichkeit halte ich für wahrscheinlicher. Manche Artefakte können andere magische Gegenstände zerstören, besonders, wenn die Wirkungsweise gegensätzlich ist. Allerdings gibt es nur wenige Artefakte, die so mächtig sind. Eine Höllenrune Grad vier oder fünf ist dafür unabdingbar!" Baldowan dankte dem Meister und lehnte sich zurück. Welche Funktion hatte das Fernglas gehabt? Es sollte dem Benutzer ermöglichen, im Dunkeln zu sehen... Wenn nun der Einbrecher ein anderes Artefakt zur Tarnung benutzt hatte, könnte es möglicherweise zu einer Überladung gekommen sein, die das Fernglas zerstört hatte. Aber wo war dieses Artefakt dann geblieben? Der Einbrecher, der jetzt im Gefängnis der Stadtwache saß, hatte kein Artefakt bei sich getragen, soviel stand fest. Baldowan nahm noch einen Schluck Branntwein und spürte sofort die Betäubung auf seiner Zunge. Genießerisch leckte er sich die Lippen. Welch ein Getränk!

Geraume Zeit später, nach einer angeregten Unterhaltung mit Vishnu, machte sich Baldowan auf den Weg ins "Savoir Vivre", wo Malice hoffentlich schon mit den Informationen auf sie wartete. Wie es Bendix wohl ergangen war? Hoffentlich war er bei seinen Nachforschungen über Mirkov nicht zu übereifrig gewesen. Der Albioner neigte gelegentlich dazu, Heldentaten zu versuchen, die eigentlich ein bis zwei Nummern zu groß für ihn waren...
Baldowan erreichte wenig später das "Savoir Vivre" und wankte zielstrebig ins Obergeschoß. Bendix schien noch nicht anwesend zu sein, jedenfalls konnte er den Freihändler nicht entdecken. Er setzte sich an einen der wenigen freien Tische und grübelte über den Einbruch nach. Irgendetwas war faul. Wie konnte ein einfacher Einbrecher solchen Schaden an einem teuren Artefakt anrichten? Hatte eventuell doch ein Magier die Finger im Spiel gehabt? Oder hatte der Eindringling ein eigenes Artefakt bei sich gehabt? Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein kleiner Dieb einen so teuren magischen Gegenstand besaß, und wenn doch, wo war er geblieben? Fragen über Fragen, die in seinem leicht umnebelten Kopf kreisten...

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Malice neben ihn trat und ihn leicht an der Schulter fasste. "Komm mit. Ich habe das, was du möchtest." Baldowan wies fragend auf einen leeren Stuhl. "Warum nicht hier?" Malice winkte unauffällig ab. "Nicht hier. Zu gefährlich." Der ehemalige Meisterdieb zog den Troll hinter sich her durch eine unauffällige Tapetentür, die Baldowan bislang nicht bemerkt hatte. Sie passierten einen niedrigen Flur und erreichten einen kleinen Raum, von dem drei weitere Türen abgingen. Eine junge Frau in kompletter Spinnenseidenrüstung hielt aus unerfindlichen Gründen Wache und beäugte Baldowan mißtrauisch. Die Wächterin wirkte unauffällig, aber geschmeidig und gefährlich und die Art, wie sie ihre Waffen - ein Kurzschwert und drei Wurfmesser im Gürtel - trug, verriet Sicherheit und Kampferfahrung. "Meine Tochter Alicia", stellte Malice kurz vor und zog den Troll in eines der angrenzenden Zimmer.

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