Orbis Incognita
Orbis Incognita - Das Rollenspiel
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Nachdem die beiden abgezogen waren, begannen Baldowan und Bendix, die Gasse und das Lagerhaus zu untersuchen. Im Dunkel der Gasse war nur wenig zu erkennen, obwohl sie im Pförtnerkabuff in der Tordurchfahrt einige Fackeln gefunden hatten. Es waren seltsamerweise zwei große Blutflecken zu erkennen. Einer stammte offensichtlich vom getöteten Nachtwächter, bei dem es sich wohl um Rainalds alten Kumpel Markus handeln musste, während die andere dunkle Lache mehr als eine halbe Manneslänge entfernt war. Konnte das Blut aus einer Schnittwunde am Hals soweit spritzen? Die beiden waren sich nicht sicher. "Ist Sirion in der Stadt?", erkundigte sich Bendix, weil ihnen der kleine Jäger mit seinem Talent bei der Spurensuche sicher hätte weiterhelfen können. Baldowan verneinte und studierte die Blutflecken, bis er schließlich mit brummendem Schädel konstantieren musste, zu keinem sicheren Ergebnis kommen zu können. Konnte der zweite Blutfleck möglicherweise von Rainald stammen?

Bendix begann unterdessen, das Pförtnerkabuff zu untersuchen, das in der dicken Mauer der Toreinfahrt eingelassen war. Rainald hatte die Situation richtig beschrieben, niemand konnte hier vorbeikommen, ohne vom Posten gesehen zu werden, wenn dieser nicht gerade vor sich hin schlummerte. Es gab einen Stuhl, einen einfachen hölzernen Tisch und einen irdenen Krug, der Bier oder Wasser enthalten mochte. Eine vorsichtige Probe ergab, dass Markus offenbar pflichtbewußt genug gewesen sein musste, um während der Arbeit auf Alkohol zu verzichten. Der Krug enthielt normales Wasser.
Auf einem schäbigen Holztisch lag das Artefakt, von dem Rainald gesprochen hatte, ein kleines, hochwertiges Fernglas mit drei eingelassenen Edelsteinen. Bendix untersuchte es genauer und entdeckte auf der oberen Seite das eingravierte Wort, das die magischen Fähigkeiten aktivierte. Ungewöhnlich, aber sicherlich sinnvoll, wenn man bedachte, dass dieses Nachtglas von vielen verschiedenen Nachtwächtern benutzt werden sollte. Das Codewort lautete "Nachtfalke". Bendix versuchte, das Artefakt zu aktivieren und hob es dann an die Augen. Er konnte keine Wirkung feststellen. Das konnte entweder daran liegen, dass die Edelsteine ihre magische Ladung erst wieder regenerieren mussten, oder aber daran, dass das Artefakt beschädigt worden war.

Inzwischen hatte auch Baldowan das Kabuff betreten und förderte neben dem Stuhl ein Buch zutage. Offenbar hatte der verstorbene Markus seine letzten Stunde mit dem Studium des erotischen Büchleins "Bourbonische Liebeskunst" verbracht, dessen aufreizende Zeichnungen Bendix´ Blut rasch in Wallung brachten, während Baldowan als Troll völlig unbeeindruckt blieb.
Mehr war in diesem kahlen, kleinen Raum beim besten Willen nicht zu entdecken. Die beiden beschlossen, einen kurzen Rundgang durch das gesamte Lagerhaus zu machen, um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen. Sie passierten die Toreinfahrt und überquerten einen großzügigen Innenhof, in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. Mehrere Türen führten in die einzelnen Gebäudetrakte, von denen jeder einzelne gereicht hätte, die Waren eines wohlhabenden Händlers aufzunehmen. Die Freunde verständigten sich mit einem kurzen Blick und trennten sich, um je einen Flügel in Augenschein zu nehmen, bevor die Stadtwächter wieder zurückkommen würden.

Etwa eine halbe Stunde später trafen sie sich wieder im Hof. "Nichts", sagte Bendix, "die Lager sind prall gefüllt mit hochwertigen Textilien, mit Seide, mit Parfüm, Öl, Essenzen, Pulvern, Alchemiesets, ich könnte niemals sagen, ob da irgendetwas fehlt. Und bei dir?" Auch Baldowan schüttelte den Kopf. In seinem Teil des Gebäudes hatte es ähnlich ausgesehen.
Als Bendix Anstalten machte, das Gebäude zu verlassen, bat ihn der Magier, noch einen Moment zu warten. Baldowan wollte versuchen, den Zustand der magischen Sicherungen des Hauses zu überprüfen. Er konzentrierte sich, um die Struktur der Materialien und der Schutzzauber zu erspüren. Wände, Dächer und Eingänge schienen völlig unversehrt, aber möglicherweise war seine Wahrnehmung auch durch Alkohol und Schlafmangel eingeschränkt.

Inzwischen hatte sich der Nebel ein wenig gelichtet und auch die Öllaternen an der nächsten Ecke brannten wieder, so dass man jetzt besser sehen konnte. Vor dem Tor angekommen, besprachen die Freunde, was nun am Besten zu tun sei. Baldowan sah ein, dass sie um diese Zeit nur wenig tun konnten und beschloß, dass sie erst am nächsten Morgen etwas würden unternehmen können. In einiger Entfernung tauchten die beiden bestochenen Stadtwächter wieder auf, deren leicht schwankender Gang auf einen kurzen, aber intensiven Kneipenbesuch schließen ließ. "Da kommen sie, haben mein Geld versoffen," murmelte Bendix verdrossen. Die Freunde beschlossen, vorerst zu verschwinden und am nächsten Tage weitere Nachforschungen anzustellen.

Einige Stunden später trafen sich Baldowan und Bendix im "Savoir Vivre" nahe des Gildenmarktes, um die Situation zu besprechen. Baldowan hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen, weil er den rustikalen Frühschoppen liebte, der in dieser guten, wenn auch etwas verruchten Kneipe serviert wurde. Das "Savoir Vivre" lag in den beiden unteren Etagen in einem der für Nevongard typischen Fachwerkhäuser. Der Besitzer Malice, ein ehemaliger Meisterdieb aus Bourbon (so munkelte man jedenfalls) und seine Frau, boten in dieser Kneipe gute Speisen und Getränke zu überaus realistischen Preisen an und lockten so mannigfaltige Kundschaft an. Besonders beliebt war der besagte Frühschoppen. Zu einer üppigen Platte mit Räucherfisch, Schinken und Landkäse wurde nach Wahl entweder Sandenhaffer Bier, bourbonischer Landwein oder albionisches Ale gereicht.

Nahezu alle Gäste wunderten sich, wie Malice so günstige Preise anbieten konnte, besonders, weil das "Savoir Vivre" in bevorzugter und entsprechend teurer Lage nahe des Gildenmarktes zu finden war. Nur die wenigsten wussten, dass Malice seine noch immer guten Kontakte überaus erfolgreich nutzte, um Informationen aller Art zu beschaffen und gewinnbringend zu verkaufen, um so hinter der ehrbaren Fassade eines fleissigen Wirtes viel Geld zu verdienen. Baldowan gehörte zu diesen Wenigen, seit sein Freund Rainald ihn mit hierher genommen hatte. Es gab einen einfachen Code, wenn man mit Malice persönlich über besonders heikle Informationen sprechen wollte; man musste lediglich eine Tischrunde bourbonischen Pfefferminzlikör bestellen. Da niemand freiwillig auf die Idee kommen würde, diesen widerwärtigen Likör zu trinken, war es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass ein uneingeweihter Gast sich mit einem solchen Wunsch an die Bedienung wenden würde.

Baldowan und Bendix jedoch begaben sich zunächst in eine der privateren Nischen im oberen Geschoß, um ihre Informationen und Möglichkeiten genauestens zu besprechen. Beide bestellten den reichlichen Frühschoppen, Baldowan beschloß nach kurzer Bedenkzeit, der Einfachheit halber sofort eine doppelte Maß "Sandenhaffer" zu bestellen. Nach der anstrengenden letzten Nacht hatte er sich das zweifelsohne verdient! Bendix wählte natürlich das Ale aus seiner Heimat. Schon nach kurzer Zeit servierte die überaus appetitliche Bedienung, die übrigens mit stark bourbonischem Akzent sprach, das üppige Essen.

Erst nach einigen Minuten geschäftiger Kauaktivität kamen die beiden zur Sache. "Rainald sitzt noch immer," berichtete Bendix. Baldowan quittierte diese Aussage mit einem Grunzen, weil er noch mit einem großen Stück Schinken beschäftigt war. Undeutlich fragte er dann, ob der Strassenkämpfer im normalen oder im Hochsicherheitsgefängnis säße. Bendix wusste zu berichten, dass sich ihr Freund in einer ganz normalen Zelle der Stadtwache befand. Während Baldowan noch geschlafen hatte, war es dem Albioner gelungen, mit einem kleinen Trinkgeld weitere Informationen von einem jungen Stadtwächter zu bekommen. Offenbar hatte der Lagerhausbesitzer Jean-Claude am Morgen gemeinsam mit seinem Verwalter seinen Warenbestand inspiziert und zur allgemeinen Erleichterung festgestellt, dass vermutlich nichts fehlte.
"Die Frage ist also, was die Eindringlinge in dem Lager wollten, wenn sie schon nichts gestohlen haben", folgerte Baldowan, leerte seinen zweiten Bierkrug und bestellte laut rülpsend einen Neuen. Ahh, das Sandenhaffer Bier wärmte den Magen eines Abenteurers wie kein zweites! "Wie verläßlich war Dein Informant?"
"Er gehörte gestern Nacht zur Einsatzgruppe und hat heute morgen geholfen, den Bericht abzufassen. Er scheint mir - für einen Stadtwächter natürlich - vergleichsweise aufgeweckt."
Baldowan beschränkte sich erneut auf eine grunzende Bestätigung und begann dann, auch die Reste von Bendix Teller andächtig zu verspeisen. "Vielleicht sollten wir nachher mit Rainald reden? Diese Geschichte kommt mit zu merkwürdig vor! Aber vorher unterhalten wir uns mit Malice!" Mit diesen Worten orderte er bei der Bedienung eine Runde Pfefferminzlikör und warnte Bendix dann, sich vor den flinken Fingern des ehemaligen Meisterdiebes Malice zu hüten.

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