Baldowan war beeindruckt. Mit einer solchen magischen Unterstützung hatte der Wachtposten einen deutlichen Vorteil gegen jedweden Eindringling, der zuvor auch noch die Schlösser des Tores knacken musste. Bendix hingegen blieb skeptisch. "Was ist mit dem Dach? Wenn ich Einbrecher wäre, würde ich es wohl von oben versuchen."
"Das war schon vorher magisch gesichert. Ich habe noch zusätzliche Fallen installiert. Dort oben gibt es gut versteckte Schwebe- und Windstäbe, die miteinander gekoppelt sind. Wenn jemand es tatsächlich schaffen sollte, dort unbemerkt hinaufzuklettern, so wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zunächst einen Schwebestab auslösen, der ihn schwerelos nach oben treiben läßt. Wenn der Eindringling dann über dem Dach schwebt", Rainald beschrieb mit eindrucksvollen Gesten, wie ein Fassadenkletterer wild rudernd über dem Lagerhaus hin- und her driften würde, "werden magische Windstäbe aktiviert, die ihn einfach wegtreiben lassen wie ein kleines Vögelchen..." Der Strassenkämpfer kicherte gehässig. "Wenn dann die Wirkung des Schwebezaubers nachlässt, klatscht er - Bumm - auf die Strasse und die Stadtwache muss ihn nur noch einsammeln!"
Bendix dachte bei sich, das Rainald seine Einstellung zu magischen Fallen offenbar grundlegend geändert hatte, seit er vor einigen Wochen ziemlich plump in die Schwebefalle des bourbonischen Assassinen Auguste de Gourmont getappt war, die ihn hilflos durch das Treppenhaus des Kaufmannes Rudolph Blaudorn hatte treiben lassen. Aber besonders die Kombination mit den Windstäben war gerissen, das musste Bendix neidlos zugestehen.
Über ihrem Geplauder waren die Freunde fast am Hafenviertel angelangt, wo Rainald in seiner neuen Funktion als Sicherheitschef die Wache am Lagerhaus überprüfen wollte. Die wenigen Laternen an den größeren Strassen sorgten für eine diffuse, gelbliche Beleuchtung, die den aufziehenden Herbstnebel in den Gassen nicht durchdringen konnte. Zielstrebig führte Rainald seine Freunde durch das Gewirr von Wegen und Sträßchen, bis er auf einen großen, steinernen Bau an einem der wenigen Plätze wies. "Dort ist es."
Bendix und Baldowan blickten neugierig nach vorn, konnten im dichter werdenden Nebel, der um die Ecken waberte aber nur wenig erkennen. Während der Magier mit glasigen Augen lethargisch dahinstapfte, versuchte Bendix ebenso wie Rainald, die weißen, unheimlichen Schwaden mit seinen Blicken zu durchdringen. Offenbar hatte der Strassenkämpfer mehr gesehen als seine Freunde, denn plötzlich spannte sich sein Körper und er stürmte los, sein Kurzschwert aus der Scheide reissend. In diesem Moment erloschen wie auf Kommando die Straßenlampen an der nächsten Kreuzung, die jedenfalls für ein Minimum an Beleuchtung gesorgt hatten. 2. Kapitel: Blutige Rätsel
Es wurde stockfinster. Bendix und Baldowan zuckten hilflos mit den Schultern und stürmten dann entschlossen hinterher. Der Magier versuchte, seine Konzentration zu sammeln, um gegebenfalls einen seiner hilfreichen Zauber wirken zu können, mußte sich aber eingestehen, dass der 97er Alserra jetzt eher hinderlich war. Die beiden sprinteten durch die Dunkelheit und stolperten fast über Rainald, der mit gezogenem, blutig glänzendem Schwert neben einer zusammengekrümmten Gestalt auf der Strasse hockte, die leise gurgelnd stöhnte. Schwarze Flüssigkeit quoll pulsierend aus einem Schnitt am Hals und ergoß sich in den Straßenstaub. Rechterhand waren schemenhaft Frot und Eingangstor eines großen Lagerhauses erkennbar.
Rainald versuchte fieberhaft, Verbandsmaterial aus der Gürteltasche zu ziehen und den Verletzten zu versorgen. "Schnappt Euch die Beiden!" stammelte er und wies mit dem Daumen die Gasse hinunter. Bendix und Baldowan liefen kurzentschlossen los, obwohl sie nicht wussten, wen der Strassenkämpfer gesehen hatte. Mit großen, wenn auch unsicheren Schritten stürmte der Troll los und bog in die nächste Gasse ein, die in Richtung des Flusses Gomd führte. Nach etwa 150 Schritten folgte am Hafen ein Gewirr völlig verwinkelter Gassen, in denen man nur zu leicht untertauchen konnte. Während er hinter sich den keuchenden, rasselnden Atem von Bendix hörte, zwang sich der Magier zu noch größerem Tempo und verfluchte seine weite Robe, die zwar überaus elegant und standesgemäß, aber in mancher Situation doch unpraktisch war.
Das Schild einer üblen Kneipe flog rasend schnell vorbei, er passierte ein heruntergekommenes Lagerhaus, in dem ein Hehler seine Geschäfte abzuwickeln pflegte und merkte am zunehmenden Fischgestank, dass sie sich dem Hafen näherten. Jetzt kam eine schemenhafte Gestalt in Sicht, die einen Umhang zu tragen schien, doch war das im Nebel mehr zu erahnen als zu sehen. Baldowan zwang sein umnebeltes Hirn, schneller zu denken. Sollte er die Gestalt mit einem Feuerstrahl niederstrecken? Oder sollte er den Fliehenden mit einem Druckzauber lediglich zu Fall bringen? Er entschied sich für letzteres, weil es ihm doch widerstrebte, einen Unbekannten, möglicherweise Unschuldigen, ohne Warnung von hinten niederzubrennen. Der Troll sammelte seine Konzentration, um den Druckzauber zu wirken, doch im entscheidenden Moment stolperte er - wie passend - über eine leere Weinflasche, die in der Gosse lag. Der Zauber funktionierte trotzdem, allerdings nicht wie gewünscht.
Mit seinem Druckzauber konnte Baldowan enorme physische Kräfte auf nahezu jedes Objekt wirken, auf ein Fass, ein Boot oder auch einen Menschen. Diesmal verfehlte er sein Ziel jedoch ein wenig und übte etwa 200 Kilo Gewicht auf einen großen Haufen Kies aus, der darauf wartete, als Baumaterial zu dienen. Der Kies stiebte in einer großen Wolke durch die Luft und prasselte gegen ein nahegelegenes Haus, während der Troll lauthals fluchte und sich entschloß, trotz des größeren Schadens den Feuerzauber zu wirken, den er besser beherrschte. Er erhaschte einen Blick auf die fliehende Gestalt, glaubte einen Moment, diese doppelt zu sehen, und setzte mit ausgestrecktem Zeigefinger einen sengenden, orange-roten Feuerstrahl ab, der sein Ziel mitten in den Rücken traf und zu Boden schickte.
Bendix hatte sich unterdessen dazugesellt und verzog angewidert die Lippen, als er das versengte Menschenfleisch roch. Vor ihnen lag eine schmächtige wimmernde Gestalt, die in unauffällige graue Bekleidung gehüllt war, unter der ein Kettenhemd schimmerte. Eine männliche Stimme stöhnte und fluchte zugleich. "Verschwinde, Zauberer. Das hier geht dich nichts an!" Der Mann versuchte, sich aufzurichten, stöhnte aber nur noch mehr. "Du bist festgenommen und wirst der Stadtwache übergeben", antwortete Baldowan ruhig. "Bendix, hast Du was zum Fesseln dabei?" Der Albioner nickte und zog ein Seil hervor, das er unter der Kleidung um die Hüften gewickelt hatte und beugte sich zu ihrem Gefangenen hinunter. Dieser spannte sich plötzlich, riß eine kleine, schmale Pistole aus dem linken Ärmel und drückte ab. Bendix sprang verdutzt zurück, gerade rechtzeitig, um der kleinen Kugel zu entgehen. Baldowan blieb äußerlich gelassen und zog dem Gegner seinen Stab über den Schädel, der daraufhin reglos zusammensackte, eine taubeneigroße Beule an der Schläfe.
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