Baldowan und Bendix hatten schon in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft mit dem zähen Strassenkämpfer die unglaublichsten Dinge erlebt. Im einen Moment setzte Rainald mit einem unglaublichen Glücksschuß aus seiner Schleuder einen Banditen außer Gefecht, im nächsten Moment stolperte er und verletzte sich selbst mit seinem Kurzschwert. Einmal hatte er Bendix bei dem Versuch, eine Wunde am Unterarm zu versorgen, versehentlich zwei Knochen gebrochen. Leider überwogen die Unglücksfälle zur Zeit deutlich...
Rainald betrachtete seine skeptischen Freunde wütend. „Ihr glaubt mir nicht? Ich bin für die Sicherheit von Jean-Claudes Lagerhaus zuständig. Er zahlt mehr als anständig!“ Das allerdings erklärte einiges. Jean-Claude war ein Goldschmied und Modeschöpfer aus Bourbon, dessen Kreationen die Damen der nevongardischen Oberklasse in helles Entzücken versetzten. Baldowan pfiff durch die Zähne und nickte anerkennend. Der Wert von Jean-Claudes Waren im Lager mochte gut und gern bei 10.000 Gulden liegen. „Na dann Prost!“, grinste er und leerte sein Weinglas in einem mächtigen Zug, der dem vorbei eilenden Oberkellner Hubertus einen überaus schockierten Blick entlockte.
Ausnahmsweise musste Rainald ihm Recht geben, dieser Wein hatte in der Tat besseres verdient, als von einem alkophilen Troll in sensationeller Geschwindigkeit vernichtet zu werden. Dennoch verrieten die fröhlich blitzenden Augen des Straßenkämpfers seine gute Laune. Hatte seine Pechsträhne endlich ein Ende gefunden? Die drei Freunde saßen noch geraume Zeit fröhlich plaudernd um den Tisch und tauschten den letzten nevongardischen Klatsch aus. Später am Abend erzählte Rainald seinen beiden Begleitern mit nicht mehr ganz leichter Stimme, dass er nun gern die erste Nachtwache am Lagerhaus überprüfen wolle. Bendix ließ seine Blicke über die geleerten Weinflaschen schweifen und hoffte, dass der Straßenkämpfer über genügend Geld verfügte, um die gemeinsame Zeche zu begleichen. Im Zweifelsfall ließen die Freunde nämlich zumeist Bendix die Rechnungen und Bestechungsgelder bezahlen, schließlich sei er ja ein gut verdienender Händler. Doch Rainald winkte den arroganten Oberkellner zu sich, und bat fröhlich grinsend um die Rechnung, die dieser wenig später höhnisch lächelnd mit einer schwungvollen Bewegung auf dem Tisch platzierte.
"Warum so fröhlich, Hubertus?", fragte Rainald. " Diese Rechnung wirst du nicht begleichen können, Nichtsnutz. " Während er dies sagte, wies der Kellner mit seinem dicken Zeigefinger auf die Rechnung aus edlem Pergament, die die staatliche Summe von sechs Gulden und zehn Talern auswies. Baldowan und Bendix erbleichten, als sie diese Zahlen erblickten. Beide hielten es für höchst unwahrscheinlich, dass ihr Freund, der dafür bekannt war, notorisch blank zu sein, diese Rechnung würde begleichen können. Wenn Rainald jemals über so viel Geld verfügte, zögerte er im Allgemeinen nicht, es für allerlei anrüchige Vergnügungen in den Freundenhäusern Nevongards auszugeben oder es schlicht und einfach zu versaufen. Zu ihrem Erstaunen blieb der Strassenkämpfer jedoch gelassen: "Du glaubst, Dich in meiner Börse auszukennen, Hubertus? Es würde Dir gut zu Gesicht stehen, Deine Gäste ehrerbietiger zu behandeln!" Mit diesen Worten zog er seine Geldbörse, ein schäbiges, aber prall gefülltes Ledersäckchen, aus dem Umhang und schnippte lässig sieben goldene Gulden auf den Tisch. Hubertus, um seine erhoffte Chance gebracht, der Stadtwache einen Zechpreller zu melden, nahm das Geld mit einem dünnen Lächeln an sich und zog sich zurück.
Baldowan und Bendix starten ihren Freund entgeistert an. "Warum um alles in der Welt hat dir Jean-Claude soviel Geld bezahlt?" Ihre Verwunderung war nicht überraschend, waren Wächter doch nicht allzu schwer zu finden. Rainald grinste fröhlich und erzählte kurz, wie ihn Jean-Claude höchstpersönlich angesprochen hatte, um ihn als Sicherheitsexperten zu engagieren. "Kurz gesagt, er wollte jemanden mit Erfahrung, der die nötigen Kontakte hat und bourbonisch spricht - also mich..." Ob dieser wenig bescheidenen Aussage musste Bendix und Baldowan dann doch ziemlich lachen, obwohl sie ihrem Freund das Glück und den guten Verdienst natürlich von Herzen gönnten. "Wer hält denn zur Zeit Wache?", wollte Baldowan mit schwerer Zunge wissen. "Markus, einer meiner Kumpanen von der Akademie. Bendix prustete belustigt. Die Akademie, wie Rainald sie zu bezeichnen pflegte, war keine Schule oder gar Universität, sondern ein Ein-Personen-Ausbildungsbetrieb in Form des alten Veteranen Wolfram, der seine zugegeben umfangreichen Kenntnisse über Straßenkampf, Beschattungstechniken und allerlei schmutzige Tricks an zwielichtige Schüler weitergab. Wolfram war dafür bekannt, nur wenig Wert auf Ehre, Ehrlichkeit und anderen Luxus zu legen, galt dafür aber als harter Hund, wenn es um den Schutz seiner Klienten und die Ausbildung seiner Schützlinge ging.
"Markus ist absolut vertrauenswürdig, und außerdem bewegt er sich lautlos in der Dunkelheit wie kein zweiter, Sirion vielleicht einmal ausgenommen", ergänzte Rainald. Das stimmte zweifelsohne. Sirion, der kleine, verschlossene Jäger glitt durch die Nacht wie ein Schatten. Erst kürzlich hatte er Dank seiner Kunstfertigkeit beim Beschatten eine gerissene bourbonische Heiratsschwindlerin entlarven können, die in Nevongard ihr Unwesen trieb.
"Wie ist das Lagerhaus gesichert?" wollte Bendix wissen. "Es gibt nur einen einzigen Zugang: das Haupttor. Das wiederum ist durch mehrere erstklassige Schlösser gesichert, die ich mit dem Dietrich nicht öffnen kann!" Rainald war recht geschickt im Umgang mit Nachschlüsseln und Einbruchswerkzeugen und konnte die meisten Türen öffnen, Bendix und Baldowan vermuteten indessen, das er dieses Talent auch durchaus bei dem einen oder anderen kleinen, nun, Diebstahl, anzuwenden pflegte, hüteten sich aber, das ihrem Freund gegenüber zu erwähnen."Außerdem", fuhr der Strassenkämpfer fort, "hat der Nachtwächter das Tor die ganze Zeit bestens im Blick. Das Torhaus liegt im Dunkeln, aber der Posten hat eine kleine magische Sehhilfe, das `Auge des Falken`, mit dem man auch bei absoluter Dunkelheit noch etwas erkennen kann! Ihr seht also, es kann nichts passieren!"
Baldowan und Bendix waren beeindruckt von der guten Organisation. "Was ist das `Auge des Falken`?", wollte Baldowan wissen, der sich als Zauberer natürlich für jegliche Magie brennend interessierte. Rainald begann weitschweifig zu erzählen, wie er das Artefakt bei einer alten Hexe auf dem Nachtmarkt aufgetrieben hatte. Das interessanteste war allerdings die Konstruktion der Sehhilfe. Grundbestandteil war ein handliches, kleines Fernglas bester Qualität, das von einem Geflecht goldener Drähte umgeben war. Oben auf dem Gehäuse saßen drei Edelsteine, die für die magische Ladung sorgten. In diesem Falle handelte es sich um blassblaue, sorgfältig geschnittene und geschliffene Himmelsaugen, die für optische Verstärkungszauber gut geeignet waren. Herzstück war aber die magische Rune eines Südlandfalken, dessen sensationelle optische Wahrnehmung selbst im hohen Norden des Gomdlandes bekannt war.
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