Enja rannte um ihr Leben, die Decke war ihr längst von den Schultern gerutscht, an dem schweren Rucksack aber klammerte sie sich unsinnigerweise fest, um wenigstens irgendeinen Halt zu haben. Hinter sich hörte sie Schreie, Aufforderungen stehen zu bleiben, aber halb blind vor Tränen in den Augen rannte sie weiter, bis ein tückisches Loch unter dem Schnee sie schmerzhaft zu Fall brachte. Schluchzend raffte sie sich auf, ihr Knöchel gab nach, sie sah nur noch den Reiter mit wutverzerrtem Gesicht und blitzender Klinge auf sie zudonnern, riesig, schnell, unaufhaltsam. Blut aus einer Armverletzung hatte seine Kleidung besudelt, und das Pferd rollte furchterregend mit den Augen. "Danke!" Der nette Mann, der ihr geholfen hatte, war plötzlich neben ihr, nahm den Rucksack, den sie immer noch in den Händen hielt, steckte die Hand hinein. Ein Triumphschrei drang über die Lippen des Angreifers, der eben den Degen zum gewiss tödlichen Stoß erhob, wurde dann aber durch einen Donnerschlag für immer abgebrochen.
Zufrieden ließ Larim den qualmenden Tornister fallen, in dessen Boden er gerade ein Loch geschossen hatte. Gut, dass er sich trotz klammer Finger in der Nacht noch die Zeit genommen hatte, seine Knarre neu zu laden. Schlecht für den Reiter, den er aus kurzer Entfernung von seinem Gaul geschossen hatte. Larim sah sich um. Wenn der andere Reiter ihn mit Pistolen unter Feuer nahm, konnte es hässlich werden. Pistolen und ein schnelles Pferd gegen eine ungeladene Donnerbüchse und immer noch keine Deckung – nicht wirklich gut. Aber Tapferkeit und Heldenmut kommen nunmal in Legenden und Ritterromanen häufiger vor als in der Realität. Der andere Reiter hatte zwar sein humpelndes Pferd wieder unter Kontrolle, aber er dachte gar nicht daran, es noch einmal mit Larim aufzunehmen.
"Komm zurück du Feigling! Stell dich zum Kampf!" Chevilion sei Dank hörte er nicht auf ihn. Larim raffte sich auf, kontrollierte seine Körperteile. Alle noch dran, in der Mehrzahl funktionsfähig. Rücken, Knie und Ellenbogen aufgeschlagen und wund, aber nicht ernsthaft verletzt. Finger taten weh vor Kälte, keinerlei Gefühl in den Füßen. Perfekt. Larim steckte sein Schwert ein, stubste den gefallenen Reiter mit dem Fuß an. Keine Reaktion, und er konnte etwas breiartiges an seinem Hinterkopf erkennen. Tot, kein Zweifel. "Na, das lief doch ganz gut, oder? Also, warum bei allen Dämonen waren die beiden ausgerechnet hinter dir her?!"
5. Kapitel: In der Wärme des Gasthauses
Am späten Nachmittag erreichte Larim endlich ein Gasthaus an der Straße. Ein Schild über der Tür zeichnete es als kaiserliche Poststation aus, ein anderes deutete den Namen "Zum fetten Hammel" an, und aus den Butzenscheiben drang warmes Licht von Kerzen, die eine gemütliche Schankstube versprachen. Natürlich hatte das Mädchen nicht geredet, aber immerhin musste Larim es trotz ihres verstauchten Knöchels nicht tragen, denn nach einigen Versuchen hatte er das Pferd einfangen können, auf dem sie jetzt saß und das er am Zügel führte. Kein Brandzeichen, keine besonderen Zeichen auf Sattel oder Zaumzeug, also gehörte es ihm, ebenso wie Dolch, Degen, Geldbörse und noch einige andere Kleinigkeiten, die er bei der Leiche gefunden hatte. Auf die Kleidung hatte er trotz der Kälte verzichtet. Zu viel Blut und Hirnmatsch, und außerdem zu leicht zu identifizieren, falls jemand danach suchte.
Mit sattem Tritt öffnete er die Tür, stellte sich offen vor den Blicken aller Gäste in den Türrahmen. "Wirt! Ein Zimmer, ein heißes Bad, Essen, Wein und den Gaul in den Stall, aber plötzlich! Und wehe ich kriege irgendwelche Ausreden zu hören, ich habe zwei verdammt harte Tage hinter mir und nicht die geringste Lust auf Herumdiskutiererei!" Die Gäste starrten ihn erstaunt an, das Schankmädchen ebenso, aber der Wirt war an seltsame Reisende gewöhnt, scheuchte Schankmagd und Stallknecht an die Arbeit und servierte mit untertänigem Lächeln einen Krug warmen Apfelwein mit Gewürzen. "Zu Diensten der Herr, wie es beliebt! Und für eure Dienerin ein Platz im Gesindesaal?" Larim stürzte einen Becher herunter, genoss die Wärme, die seine Glieder sofort durchflutete und die vielen Aromen, die seine Zunge kitzelten. Mit bewusst bösem Seitenblick funkelte er den Wirt an. "Eure Betten haben doch wohl ein Fußende, oder denkt ihr, ich würde unnötig Geld verschwenden? Bringt Braten und Suppe, und eure Magd soll die Kleine in die Wanne stecken und ordentlich abschrubben."
Unter Verbeugungen zog der Wirt sich zurück. Es hatte wirklich Vorteile mit Pferd zu reisen, denn man schonte nicht nur die Füße, sondern wurde auch gleich als hoher Herr behandelt und nicht als bewaffneter Straßendreck. Gemütlich schenkte Larim sich einen zweiten Becher ein, legte die Füße auf den Tisch und lehnte sich zurück, ließ den Blick unter der breiten Krempe seines Hutes hinweg über den Schankraum schweifen. Jetzt noch ein lukrativer Auftrag, damit er das Luxusleben auch auf längere Sicht finanzieren konnte, und er war glücklich. Sein Blick streifte das Mädchen, das etwas verschüchtert ob der harten Ansprache neben dem Tisch stand. "Immer noch sprachlos?" Sie starrte ihn weiter an, bis Larim ihr seufzend den Becher reichte. "Besauf dich nicht." Sie trank drei Becher Wein bis sie schwankte, und als die Magd endlich die Wanne gefüllt hatte und sie abschrubbte, verriet ihr wortloses Quietschen ihm, das sie nicht wirklich stumm war. Irgendwann würde er erfahren, warum er sein Leben riskiert hatte. Und bis dahin konnte sie seine Rechnung als Dienstmädchen bei ihm abarbeiten. Er war schließlich kein verdammter Held, der für das Gute kämpfte!
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