Orbis Incognita
Orbis Incognita - Das Rollenspiel
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2. Kapitel: Unerwartete Gäste

Ein Schuss bellte durch die Nacht, wurde von den Stämmen der Bäume dutzendfach reflektiert, verzerrt, irgendwann auch geschluckt. Aber nicht nur Larim und eine Handvoll fröstelnder Waldtiere, die ernsthaft über die Einführung jährlicher Wanderungen in den Süden nachdachten, hörten den Knall. Auch eine kleine Gestalt, die schon aufgehört hatte irgendetwas wahrzunehmen, schreckte hoch. Nicht sehr, denn wo Larim in seiner soliden Winterkleidung noch reichlich Kraft zum Fluchen hatte, war ihr magerer Körper von wenig mehr als dreckigen hartgefrorenen Lumpen notdürftig bedeckt. Und sie war auch schon deutlich länger als er im freien, hatte die letzte Nacht kaum überlebt und würde an dieser mit Sicherheit scheitern. Aber in dem malträtierten kleinen Körper steckte ein erstaunlich starker Wille, und so begann sie, sich auf Händen und Knien in Richtung des Lichtes zu schleppen, das zwischen den Bäumen flackerte.

Während sich die Flammen hinter ihm langsam durch das gefrorene Reisig fraßen, bemühte Larim sich, seinen Plan von Windschutz und improvisiertem Bett wenigstens teilweise in die Tat umzusetzen. Es würde wohl auf einen flachen und einen etwas höheren Stapel Zweige hinauslaufen, aber wenn er sich erst alle Ersatzkleidung um die Füße gewickelt und sich mit Mantel und Wolldecke zugedeckt hatte, würde es schon gehen. Wenigstens musste er sich um Räuber und Wölfe keine Sorge machen – die waren mit Sicherheit nicht so dumm, sich in dieser Nacht aus ihren Löchern zu wagen. Holz knackte. Natürlich knackte schon die ganze Zeit Holz, aber Larim wusste sofort, er hatte es nicht knacken lassen. Wer fast nur in der Nacht kämpfte, musste sich auf seine Ohren verlassen können, und Larim hatte wochenlang geübt, bis er jedes Geräusch sofort grob lokalisieren konnte. Hinter ihm, dicht am Feuer. Wo er seinen Waffengurt hingelegt hatte. Seine klamme Rechte schloss sich um einen dickeren Zweig, die Linke tastete nach dem Messer in seinem Leibgurt.
Mit einem blitzschnellen Sprung, der mit warmen Muskeln viel eleganter gewesen wäre und viel weniger Schmerzen bedeutet hätte, warf er sich seitlich zu Boden, kam sofort wieder auf die Füße und hielt das Messer zur Verteidigung bereit, das Feuerholz zum ablenkenden Wurf. Doch weder ein Raubtier noch ein Raubmensch noch irgendeine Kreatur, deren Vernichtung er sich sonst gut bezahlen ließ, waren aus der drohenden Finsternis gekrochen. Am Rande seines Lagers lag ein zerlumptes Bettler-kind, starrte ihn erschrocken aus weit aufgerissenen Augen an, streckte ihm die erstarrten Finger entgegen. Dann brach es entkräftet zusammen.

Blinzelnd öffnete Enja die Augen, ihr ganzer Körper schmerzte entsetzlich, in ihren Füßen schienen die Feuer der Hölle zu brennen. Sie versuchte sich zu bewegen, war gefangen, gefesselt, geriet in Panik. Träge zappelnd wehrte sie sich gegen ihre Feinde, die sie fassen, verschleppen und... schrechliche Dinge mit ihr tun wollten. Eine finstere Gestalt schob sich über sie, packte sie, presste sie auf den Boden. Enja kreischte, versuchte es zumindest, brachte nicht mehr als ein Krächzen über ihre aufgesprungenen Lippen. Eine Stimme drang an ihr Ohr. Irgendwann wurden die Laute zu verständlichen Worten. "Lieg still, dummes Gör, sonst rollst du noch ins Feuer und verbrennst dich. Oder meine Decke, was sicher schlimmer wäre." Enja erstarrte, versuchte sich zu orientieren. Die Stimme kam ihr nicht bekannt vor, gehörte nicht zu ihren Verfolgern.

Endlich hatte das Kind aufgehört zu zappeln, und Larim bedeckte ihre Füße, die er seit geraumer Zeit massiert, mit Heilsalbe eingerieben und an warmen Steinen aus dem Feuer gewärmt hatte. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass auch seine Hände warm wurden, während andererseits sein restlicher Körper immer kälter wurde. Immerhin schien das Kind keinen übermäßigen Parasitenbefall zu haben, wie die jämmerlichen Lumpen eigentlich nahelegten. Aber Larim beschwerte sich nicht, auch wenn Läuse angeblich warm hielten. Neugierig machte er sich daran, das jetzt wache Kind aus der Nähe zu betrachten, das sich alleine im winterlichen Wald herumtrieb und ohne ihn sicher bald krepiert wäre.
Mit schnell wieder kalt werdenden Fingern zog er die Lumpen beiseite. Seltsam, das zerfetzte Sammelsorium aus Stoff war nicht einmal irgendwie genäht, sondern grob und schlampig zurechgeknotet, so dass es den Körper halbwegs bedeckte, freilich nicht ohne etliche Lücken zu lassen, die erst auf den zweiten Blick zu sehen, aber sicher sofort beißend kalt zu spüren waren. Zitternd vor Kälte und sicher auch Angst ließ es ihn gewähren, bis er endlich die Lumpen von dem dreckigen Gesicht entfernt hatte. Lange, schmutzigblonde Haare quollen ihm entgegen, und ein ausgezehrtes Gesicht mit Stupsnase. Das Gör war also ein Mädchen.

"Was machst du hier? Bist du aus dem Dorf? Eher eine Bettlerin. Passt niemand auf dich auf, keine Familie, keine Bande?" Sie starrte ihn weiter an, die aufgesprungenen Lippen halb geöffnet, die müden Augen wieder halb geschlossen. Idiot, natürlich war ihre Kehle von der Kälte völlig ausgedörrt, und sicher hatte sie auch lange nichts mehr gegessen. Larim verpackte sie wieder in der Decke, schob sie näher ans kräftig lodernde Feuer und machte sich daran, seine knappen Vorräte auf dem Feuer in einen essbaren Zustand zu bringen.

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